Freitag, 8. Dezember 2023

Abstinenznachweise bei der Drogen-MPU (gemäß BK 4)

Neben den von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) herausgegebenen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung bilden die von der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) und der Deutschen Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) herausgegebenen Beurteilungskriterien (Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung) die Arbeitsgrundlage der Gutachter:innen an den amtlich anerkannten Begutachtungsstellen für Fahreignung. Im November 2022 wurde die 4. Auflage der Beurteilungskriterien (kurz: BK 4) veröffentlicht, die von der „Ständigen Arbeitsgruppe der DGVP und DGVM zur Weiterentwicklung der Beurteilungskriterien“ (StAB) unter Federführung von Herrn Jürgen Brenner-Hartmann erarbeitet wurde. Nach Ablauf der Übergangsfrist bis Ende Juni 2023 ist davon auszugehen, dass die neuen Beurteilungskriterien in 2024 vollständig umgesetzt werden.

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, was sich hinsichtlich der bei der Drogen-MPU nachzuweisenden Abstinenzzeiten geändert hat.
Wie bisher muss die Drogenabstinenz durch forensisch abgesicherte polytoxikologische Urin- oder Haarproben entsprechend den Chemisch-Toxikologischen Untersuchungskriterien (CTU-Kriterien), die in den BK 4 enthalten sind, über einen längeren Zeitraum vor der MPU nachgewiesen (dokumentiert) werden.
Relevante Veränderungen in Bezug auf die nachzuweisenden Abstinenzzeiten ergeben sich durch die BK 4 vor allem im Hinblick auf die Hypothesen D 1 und D 2.
Drogenabhängigkeit (Hypothese D 1)
Bei Vorliegen einer (in der Regel durch externe Fachleute diagnostizierten) Drogenabhängigkeit ist von Hypothese D1 auszugehen:
Es liegt eine Abhängigkeit von Betäubungsmitteln im Sinne des BtMG, Neuen psychoaktiven Stoffen im Sinne des NpSG oder anderen psychoaktiv wirkenden Stoffen vor. Eine Entwöhnungsbehandlung oder eine vergleichbare, in der Regel suchttherapeutisch unterstützte Problembewältigung hat zu einer stabilen Drogenabstinenz geführt.“ (BK 4, S. 143)
Bei D 1 ist grundsätzlich sowohl Drogen- als auch Alkoholabstinenz zu fordern (Kriterium D 1.3 N): „Es besteht eine anhaltende und nachvollziehbare Abstinenz von Drogen bei gleichzeitigem Alkoholverzicht.“ (S.150)
D 1.3 N 5. (stationäre Therapie): Bei regulärem d.h. erfolgreichem Abschluss einer stationären Entwöhnungsbehandlung (d.h. Reha Sucht zu Lasten der Rentenversicherung oder der gesetzlichen Krankenversicherung) oder ganztägiger ambulanter Entwöhnungsbehandlung (Tagesklinik) muss die Abstinenz – wie bislang auch - über einen Zeitraum von 12 Monaten nach Abschluss der Maßnahme (d.h. außerhalb beschützter Umgebung) dokumentiert werden (vgl. S. 151).
D 1.3 N 6. (besonders günstig gelagerte Umstände): Bei „besonders günstig gelagerten Umständen (z.B. sehr kurze Phase der Abhängigkeit ohne weitreichende Störung der sozialen Bezüge und ohne wesentliche Persönlichkeitsveränderungen mit intrinsischer Abstinenzmotivation)“ können 6 Monate belegte Abstinenz evtl. ausreichen (vgl. S. 151). Kriterium D 1.3 N 6. gibt den Gutachter:innen die Möglichkeit, im Einzel- und Ausnahmefall von den 12 Monaten belegter Abstinenz nach unten abzuweichen.
D 1.3 N 8. (ambulante Therapie): Bei Durchführung einer ambulanten Entwöhnungsbehandlung (d.h. Reha Sucht zu Lasten der Rentenversicherung oder der GKV) müssen insgesamt 15 Monate Abstinenz (incl. des Zeitraums der ambulanten Entwöhnung) nachgewiesen werden. (vgl. S. 151)
D 1.3 N 10. („Selbstheiler“): bei Abstinenz „ohne vorherige therapeutische Aufarbeitung der persönlichen Ursachen“ (S. 151) müssen 15 Monate Drogenabstinenz nachgewiesen werden.
D 1.3 N 14. (Alkohol): bei Hinweisen auf Alkoholmissbrauch in der Vergangenheit (z.B. Mischkonsum von Alkohol und illegalen Drogen, aktenkundigen Trunkenheitsfahrten, Suchtverlagerung auf Alkohol etc.) ist auch der Alkoholverzicht über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten vor der Begutachtung zu belegen (vgl. S. 152).
Wenn der FFI nicht bereits eine abgeschlossene suchttherapeutische Maßnahme vorausgegangen ist, sind bei Drogenabhängigkeit (D 1) in der Regel 15 Monate belegte Drogenabstinenz zu fordern.
Fortgeschrittene Drogenproblematik (Hypothese D 2)
Hypothese D 2:Es liegt eine fortgeschrittene Drogenproblematik vor, die sich in einer Substanzkonsumstörung, in einem riskanten bzw. polyvalenten Konsummuster oder auch im Konsum hoch suchtpotenter, schwer kontrollierbarer Drogen gezeigt hat. Diese wurde problemangemessen aufgearbeitet und eine Drogenabstinenz wird ausreichend lange und stabil eingehalten.“ (S. 162)
Bei D 2 ist grundsätzlich Drogenabstinenz zu fordern (Kriterium D 2.4 N): „Die Ursachen der Entwicklung des Suchtstoffmissbrauchs wurden in der Regel im Rahmen einer suchttherapeutischen Maßnahme, einer Psychotherapie oder einer anderen fachlich qualifizierten Intervention individuell aufgearbeitet. Dies hat die persönlichen Voraussetzungen für eine stabile Abstinenz geschaffen, die von bereits ausreichender Dauer und nachvollziehbar dokumentiert ist.“ (S. 165)
Bei D 2 ist Alkoholabstinenz nicht zwingend. Kontrolliertes Trinken kann ausreichend sein.
D 2.4 N 12.: „Falls der Klient weiterhin Alkohol konsumiert, finden sich keine Hinweise auf problematische Konsummuster, die sich ungünstig auf die Aufrechterhaltung der Drogenabstinenz auswirken können (vgl. Indikator 8 und Kriterium D 1.3 N, Indikator 14).“ (S. 167)
D 2.4 N 4.: Der Klient kann 12 Monate Abstinenz nach Abschluss der Maßnahme (suchttherapeutische Maßnahme, Psychotherapie oder andere fachlich qualifizierte Intervention) belegen (vgl. S. 166). Diese Konstellation dürfte für die meisten Klient:innen, die sich aufgrund von Führerscheinverlust an die Drogenberatungsstelle wenden, eher unattraktiv sein, da es in diesem Fall mindestens 18 Monate bis zur Wiedererlangung der Fahrerlaubnis dauert. Es ist anzunehmen, dass durch D 2.4 N 4. die Absolvent:innen von ambulanten und stationären Maßnahmen weitgehend gleichgestellt und „Fehlanreize“, die dazu führen, dass stationäre Therapien nicht angetreten oder bei der MPU verschwiegen werden, beseitigt werden sollen.
D 2.4 N 7. („Standardfall“): Der Klient hat bereits vor oder während der Fahreignungsfördernden Intervention (FFI) damit begonnen, seine Drogenabstinenz zu dokumentieren: in diesem Fall müssen insgesamt 15 Monate Abstinenz (incl. Maßnahme) belegt werden. Mindestens 6 Monate des belegten Abstinenzzeitraums sollen zeitlich nach Abschluss der Maßnahme liegen (vgl. S. 166). Dies dürfte zukünftig der „Standardfall“ bei den fahreignungsfördernden Interventionen der Drogenberatung sein, sofern in der Vorgeschichte keine (regulär abgeschlossene) stationäre oder ambulante suchttherapeutische Maßnahme absolviert wurde.
D 2.4 N 6. (besonders günstig gelagerte Umstände): Bei „besonders günstig gelagerten Umständen (z.B. kurze Phase des Missbrauchs ohne weitreichende Störung der sozialen Bezüge und ohne wesentliche Persönlichkeitsveränderungen mit intrinsischer Abstinenzmotivation)“ können die Gutachter:innen bereits nach mindestens 6 Monaten (nach Abschluss der Maßnahme) von einer stabilen Drogenabstinenz ausgehen (vgl. S. 166). D 2.4 N 6. räumt den Gutachtern einen Ermessensspielraum ein, hinsichtlich der geforderten Abstinenzzeiten im Einzel- und Ausnahmefall nach unten abzuweichen.
D 2.4 N 10. („Selbstheiler“): Bei „fehlender therapeutischer Aufarbeitung“ (S. 166) müssen grundsätzlich 15 Monate Drogenabstinenz belegt werden.
D 2.4 N 8. (Alkohol): bei Hinweisen auf Alkoholmissbrauch in der Vergangenheit (z.B. Mischkonsum von Alkohol und illegalen Drogen, aktenkundigen Trunkenheitsfahrten, Suchtverlagerung auf Alkohol etc.) ist auch der Alkoholverzicht über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten vor der Begutachtung zu belegen (vgl. S. 166).
Auch interessant ist D 2.4 N 11.: „Wird zum Ende eines belegten, langfristig stabilen Abstinenzzeitraums vor einer Begutachtung der Fahreignung eine 'rückversichernde' fachliche Beratung in Anspruch genommen, ist diese zeitlich von kurzem Umfang und dient ersichtlich nicht dazu, Einstellungs- und Verhaltensänderungen herbeizuführen, die einer weiteren Stabilisierung bedürften.“ (S. 167)
Fazit: Im Rahmen von Fahreignungsfördernden Interventionen (FFI) der Drogenberatungsstellen dürfte die Empfehlung einer belegten Drogenabstinenz von 15 Monaten zum "Regelfall" werden, sofern der zu belegenden Abstinenz (bei D 1) keine abgeschlossene stationäre suchttherapeutische Maßnahme (Reha Sucht oder tagesklinische Reha Sucht) oder (bei D 2) keine abgeschlossene ambulante suchttherapeutische Maßnahme (ambulante Therapie bei der Drogenberatungsstelle, Psychotherapie, Verkehrspsychologe oder andere fachlich qualifizierte Intervention) vorausgegangen ist. Mindestens 6 Monate der belegten Abstinenz sollten nach Abschluss der FFI dokumentiert sein. Die FFI darf also zeitlich nicht deckungsgleich mit dem zu belegenden Abstinenzzeitraum sein! Die Idee scheint hierbei zu sein, dass der/die Klient:in seine/ihre Stabilität dadurch unter Beweis stellt, dass es ihm/ihr gelingt, die bestehende Drogenabstinenz auch ohne therapeutische Unterstützung aufrechtzuerhalten.

 

Robert Bischoff, Diplom-Sozialarbeiter & Suchttherapeut, Drogen- und Jugendberatungsstelle Lörrach des Arbeitskreises Rauschmittel e.V. (AKRM), zuletzt am 26.02.24 bearbeitet.

 

Quelle: DGVP u. DGVM (Hrsg.), Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung, 4. Auflage, Bonn 2022.